Förderkreis Sumy-Hilfe e.V. > Infos

Zivilgesellschaft in der Ukraine

Während einer Konferenzpause fragte mich die ukrainische Dolmetscherin, wie die Ukrainer zu einem gesellschaftlichen Engagement ohne vordergründiges Eigeninteresse kommen könnten. Ich konnte ihr keine direkte Antwort geben. Jede Gesellschaft und jede Kultur muss diesen Prozess zum Wohl aller Bürger selbst durchleben, wenn es die Mehrheit will. Dazu gehört viel individuelles und gemeinschaftliches Lernen. Insbesondere die Veränderung von Perspektiven auf soziale, politische und ökologische Probleme unserer Zeit. Dass wir in Deutschland auch mitten auf dem Weg sind, zeigen „Stuttgart 21“ und andere „Reibungen“ zwischen repräsentativer und partizipativer Demokratie. Ich habe der Dolmetscherin ein wenig von den Erfahrungen in der Behindertenarbeit bis in die jüngste Zeit Deutschlands erzählt. Ohne zivilgesellschaftliches Engagement würden sehr wahrscheinlich in Deutschland die großen Behindertenheime konkurrenzlos in alter Form weiter existieren. Bei einem Verständnis von Zivilgesellschaft, die alle Bereiche zwischen und neben Politik, Wirtschaft und Familie umfasst. Die manchmal abwertend gemeinte „Vereinsmeierei“ in der deutschen Entwicklung ist ein wichtiger Baustein der Zivilgesellschaft. Wesentliche Impulse durch Einzelpersonen, die eine gesellschaftliche Breitenwirkung hatten wie etwa das Rote Kreuz, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt oder jüngere Organisationen wie die Lebenshilfe hatten etwas mit der Kirche, mit Parteien und Ideologien zu tun. Sie waren aber mit ihrem Anliegen selten integraler Bestandteil der entsprechenden Organisationen und mussten sich oft auch gegen das eigene System durchsetzen.

Geschichte kann viel von der Gegenwart erklären. Im zaristischen Russland gibt es keine nennenswerten bürgergesellschaftlichen Bestrebungen und so kann der zaristische Despotismus nach einem sehr kurzen liberalen Zwischenspiel in ein kommunistisches Regime überführt werden. Wenn auch die Ziele einer besseren Gesellschaft anfangs manchen Protagonisten geleitet haben, zeigt sich schnell, dass im russischen Reich keine Revolution stattfindet, sondern die Macht mittels Putsch an eine anders gefärbte Clique übergeht. Wie auch die adlige Herrschaft ist die kommunistische Herrschaft daran interessiert, die gesamte gesellschaftliche Macht in ihren Reihen zu monopolisieren. Zum Beispiel ist so etwas wie eine Freiwillige Feuerwehr oder freiwillige Katastrophenhilfe bis heute unbekannt. Jedes ehrenamtliche Pflänzchen außerhalb der engen Umzäunung staatlicher Regelungen wird rabiat ausgerissen oder umgepflanzt. Das bezeugen 70 Jahre Sowjetunion und das Leid und der Tod vieler, nicht zu letzt unzähliger Menschen mit Behinderung. Allerdings steht eine historisch-kritische Aufarbeitung dieses Bereiches am Rande und hinter den Mauern noch aus.

Es ist nicht verwunderlich, dass die plötzliche Forderung durch Gorbatschow von ganz oben nach Transparenz und Umgestaltung an der Basis eher Irritationen auslöst. Plötzlich soll die diktatur-erfahrene und bevormundete Bevölkerung auf Demokratie umschalten. Anders als im osteuropäischen Ausland wie Polen oder Tschechien, fehlen geschichtliche Erfahrungen und der notwendige Lernprozess und damit auch die Bürger, die die Gesellschaft in diesem Sinne umgestalten können. Statt der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme führt diese Entwicklung der Umgestaltung von oben zur Verschärfung und Neuentwicklung von Krisen in der ehemaligen Sowjetunion.

Das Lernergebnis ist vorerst „Demokratie und Umgestaltung lohnen sich nicht“, insbesondere auf Grund der damit einher gehenden wirtschaftlichen Misere. Diese Talfahrt in fast allen ökonomischen und sozialen Bereichen gleicht einem von Termiten zerfressenen Holzhaus. Viele machen den frischen Wind dafür verantwortlich, dass es in sich zusammenbricht. Dabei wollen sie nicht wahrhaben, dass das System über Jahrzehnte von innen ausgehöhlt und zerfressen wurde.

In dieser letzten Dekade des 20. Jahrhunderts schießen Nichtregierungsorganisation (engl. NGO) wie Pilze aus der ukrainischen Erde. Unter der Lupe stellen sich aber viele als Unmuts-Sammelbecken ohne Perspektive oder/und als Mäntelchen zur Machterhaltung von Natschalniks heraus und haben ein kurzes Leben in der tatsächlichen Gesellschaft. Auf dem Papier existieren sie weiter. 30.000 bis 40.000 NGOs soll es in der Ukraine geben. Schätzungsweise sind 10 Prozent heute aktiv. Darunter gibt es ca. 100 Vereine, die die Interessen von Menschen mit Behinderung vertreten. Viele hängen mit ihren Aktivitäten finanziell von ausländischen Partnern und zeitlich begrenzten Projektmitteln ab. Auch die personellen Ressourcen sind meist sehr begrenzt. Relativ selten sind in diesen Vereinen ehrenamtliche Mitarbeiter anzutreffen, die nicht in irgend einer Weise direkt betroffen sind. Das ist nicht verwunderlich, denn ehrenamtliche Arbeit hat keine gesellschaftliche Tradition und Mechanismen der Anerkennung gibt es kaum. Das fängt bei steuerrechtlichen Vorteilen an und hört bei der Würdigung in den Medien nicht auf. Trotzdem geben diese machtpolitisch kleinen NGOs wichtige Impulse für die Kultur des Zusammenlebens in der Ukraine, für die Einhaltung der Menschenrechte von Randgruppen, für die Formulierung von Gesetzen und Verordnungen.

Seit einigen Jahren gibt es einen Dachverband der NGOs, die sich schwerpunktmäßig um die Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung kümmern. Durch diesen Dachverband wird eine Kommunikation mit entsprechenden Ministerien und Politikern ermöglicht. Ob der Einfluss gegenüber den fast allmächtigen Oligarchen zu nachhaltigen Veränderungen in der Sozialpolitik führen kann ist jedoch immer noch fraglich. Genau so offen ist die Zielstellung gesellschaftlicher Entwicklungen, sei es bei Handlungen der Regierung, die oft wie Theatervorstellungen von den Bürgern wahrgenommen werden oder bei Diskussionen in Kneipen. Natürlich ist die „politische Willensbildung“ in jedem Land kontrovers, aber die unklare Positionierung im Spannungsfeld von Demokratie, Diktatur und Oligarchie ist in der Ukraine eine Besondere. Das gesamtgesellschaftliche Experiment der „Orangenen Revolution“ war anfangs erfolgreich, auch wenn es durch das östliche und westliche Ausland stark gepuscht wurde. Es gab ein völlig neues Gefühl von Veränderungsmacht, von Einfluss und Kontrollmöglichkeit des Bürgers „von der Straße“. Schnell verwandelten aber die Symbolfiguren des bürgerlichen Engagements durch ihre politischen Kleinkriege die Gefühle der hoffnungsvollen Ukrainer in eine ausweglose Enttäuschung. Diese negative Erfahrung ist bezüglich zivilgesellschaftlicher Aktivitäten nicht zu unterschätzen.

In Sumy gibt es seit 2003 ein Büro „Social Partnership Centre“ (SPC) finanziert von EU-Projektmitteln. Es soll der Stärkung von NGOs in der Ukraine dienen. Nach dem Selbstverständnis sieht sich dieses Zentrum als als Ort der Begegnung und Forum für zivilgesellschaftliche Veranstaltungen. Es finden Treffen von lokalen NGOs zu bestimmten Themen statt, Fortbildungen werden organisiert, die Kooperation von Behörden und Vereinen wird unterstützt. Bisher gibt es keinen bekannten Bericht über die Wirksamkeit solch einer organisierten zivilgesellschaftlichen Entwicklungsorganisation. Auf wichtige Fragen gibt es nur höchst spekulative Antworten. Benötigt jede Gesellschaft ihre höchst eigene Entwicklungszeit, um moderne Instrumente und Strukturen der Umsetzung von Menschenrechten tief im Verständnis und Leben zu verankern? Gibt es nur den Weg der Demokratie zur Sicherung und Gewährleistung der Menschenrechte, den die meisten Industrieländer gehen? Sind schnelle Bekundungen zur Einhaltung der Menschenrechte ohne gesellschaftliche Verankerung und Konsens kontraproduktiv? Den Hintergrund dieser dritten Frage bildet die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention. Diese Konvention, durchdrungen vom Gedanken der gesellschaftlichen Inklusion bedeutet im Hinblick auf ihre Umsetzung in der Ukraine selbst für Fachleute mehr Irritation als Zielbeschreibung.

Ein wichtigen Bereich der Zivilgesellschaft wurde nicht berücksichtigt – das nicht institutionelle und nicht organisierte Engagement. Natürlich gibt es dieses auch in der Ukraine. Ein Mensch der ein Fleckchen Erde immer wieder vom Müll befreit, der einsame Menschen besucht und dergleichen mehr. Aber in einer Welt, in der die unabhängige Selbstwirksamkeit an der Haustür endet, wird schon der Hausflur zu einem Raum der Verantwortungslosigkeit und staatlicher Regelungs-Erwartung.

Amund Schmidt